28. Juli 2021 | Bis zu 811 Millionen Menschen, knapp ein Zehntel der Weltbevölkerung, sind unterernährt. Diese Zahlen für das Jahr 2020 offenbart der diesjährige UN-Welternährungsbericht, der kürzlich veröffentlicht wurde. Durch die Corona-Pandemie habe sich die Situation nun deutlich zugespitzt.
Über die aktuelle Lage haben wir mit Dr. Jan Makurat vom Kompetenzzentrum Humanitäre Hilfe der FH Münster gesprochen. Der Oecotrophologe befasst sich in Lehre und Forschung auch mit der internationalen Ernährungssicherung und hat sich für längere Zeit unter anderem in Südostasien aufgehalten, einer Region, in der für bestimmte Bevölkerungsgruppen der Zugang zu angemessenen Nahrungsmitteln nicht gewährleistet ist.
Herr Dr. Makurat, was dachten Sie, als Sie die Zahlen des diesjährigen UN-Welternährungsberichts gelesen haben?
Makurat: Dies ist der stärkste Anstieg der Zahlen seit Jahrzenten, ein gewaltiger Rückschlag für alle Initiativen, die sich weltweit gegen Hunger und Unterernährung engagieren. Kurz gesagt, es ist die Verschärfung einer andauernden Tragödie, zu deren Auflösung wir in den vorangegangenen Jahren weitestgehend nur Stillstand verzeichnen konnten. Gleichzeitig wurde mit dieser Eskalation gerechnet, bereits der letztjährige Welternährungsbericht wies explizit auf die Auswirkungen der Corona-Pandemie hin. Zu diesem Zeitpunkt lagen jedoch noch keine Schätzungen für 2020 vor.
Können Sie skizzieren, wie die Pandemie das Problem verschärft?
Makurat: An erster Stelle sind die ökonomischen Auswirkungen der beispiellosen Corona-Eindämmungsmaßnahmen zu nennen, welche weltweit zu ausgeprägten Rezessionen führen. Hiervon tangiert sind dann insbesondere Wanderarbeiter*innen, Hilfsarbeiter*innen sowie Beschäftigte des informellen Sektors, die durch Entlassungen, Lockdowns und weitere Beschränkungen ihre Einkommensgrundlage vollständig verlieren beziehungsweise Einkommensverluste hinnehmen müssen. Frauen sind hier überdurchschnittlich stark betroffen. Im Ergebnis nimmt die Einkommensarmut zu und weniger Menschen haben damit einen gesicherten Zugang zu Nahrungsmitteln.
Grenzschließungen, Handelsbeschränkungen und Lockdowns resultieren auf der Angebotsseite auch im Ausfall von Nahrungslieferketten, speziell bei Lebensmittelimporten. Zudem werden auch wichtige lokale Märkte geschlossen. Dringend erforderliche Arbeiter*innen für den Agrar- und Lebensmittelsektor können ihre Arbeit nicht aufnehmen. Erhebliche Mengen an Nahrungsmitteln verderben somit schlichtweg.
Insgesamt sind dann Preissteigerungen die Folge. Durch anhaltende Schulschließungen werden zudem in vielen Ländern wichtige Schulverpflegungsprogramme ausgesetzt, von welchen benachteiligte Haushalte in der Regel am stärksten profitieren. In vielen Regionen verschärft die Corona-Pandemie die ohnehin dramatische Ernährungssituation für Bevölkerungen, die von Konflikten, politischer Instabilität, Armut oder Klimavariabilität betroffen sind.
In dem Bericht heißt es, dass die Pandemie die Schwächen der Ernährungssysteme offenbare. Was sind die Schwachstellen und ihre Ursachen, wenn man sich beispielsweise den afrikanischen Kontinent anschaut?
Makurat: Viele der dortigen Ernährungssysteme zeigen sich wenig resilient gegenüber den aktuellen Entwicklungen. Zuerst fehlen vielerorts Mechanismen der sozialen Absicherung sowie starke und reaktionsschnelle Institutionen. Dann ist da die gewachsene Abhängigkeit von Importen, das gilt für Nahrungsmittel ebenso wie für benötigte Produktionsgüter des zunehmend exportorientierten Agrarsektors, wie zum Bespiel Maschinen und Saatgut.
Für die meisten lokalen Kleinbauern sind diese Güter jedoch nur schwer und risikoreich zu finanzieren. Ihnen fehlt zudem der Zugang zu sicherem Grundbesitz, Fortbildung und staatlichen Dienstleistungen, um Quantität und Qualität der Produktion nachhaltig zu verbessern. Dringend benötigt werden hier Innovationen und adäquate Anpassungsstrategien für Klimaextreme. Fehlende Technologien in der Verarbeitung und Lagerung führen zu hohen Nachernteverlusten. Gepaart mit schlechter Infrastruktur und aufwendiger Logistik resultieren daraus dann auch relativ hohe Endverbraucherpreise für lokal produzierte Nahrungsmittel.
Welche Veränderungen in den Ernährungssystemen sind notwendig, um eine sichere Versorgung aller Menschen mit bezahlbaren und gesunden Lebensmitteln zu gewährleisten?
Makurat: Sie sollten verstärkt an lokale Konditionen und den lokalen Bedarf angepasst sein, auch müssten sie resilienter aufgestellt werden im Hinblick auf Klimawandel, Naturkatastrophen, Konflikte und Rezessionen. Dabei sind Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit sowie gesundheitsfördernde Ernährungsmuster zu berücksichtigen.
Konkrete Maßnahmen von hoher Priorität stellen unter anderem dar:
1. die Stärkung besonders benachteiligter Bevölkerungsgruppen durch sozial- und gesundheitspolitische Interventionen,
2. der Ausbau klimaresilienter, klimaneutraler und ressourcenschonender Produktionstechniken,
3. die Senkung von Produktions- und Endkosten von gesunden, nahrhaften Nahrungsmitteln bei gleichzeitiger Verbesserung der Verfügbarkeit und
4. die Förderung von nachhaltigen Ernährungs- und Konsummustern, die einen positiven Einfluss auf die Gesundheit haben.
Hinzu kommt noch, dass dringend Maßnahmen zu treffen sind, Ernährungssysteme in Konfliktregionen funktionsfähig zu halten, insbesondere durch die bessere Integration von humanitärer Hilfe mit Maßnahmen der Friedenssicherung und der längerfristigen Entwicklungszusammenarbeit.
Ist das Ziel der Staatengemeinschaft, den Hunger in der Welt bis 2030 zu beenden, noch zu erreichen? Eine Welt ohne Hunger - ist die denkbar?
Makurat: Eine Welt ohne Hunger und Unterernährung ist möglich, das zeigen viele regionale und nationale Entwicklungen aus der Vergangenheit. Dass dieses Ziel bis 2030 erreicht wird, ist derzeit jedoch nur sehr schwer vorstellbar. Vorerst braucht es enorme Finanzmittel und Anstrengungen, um die jüngsten Entwicklungen abzumildern. Für 2021 ist in vielen benachteiligten Ländern eher sowohl mit einer weiteren Verschärfung der Pandemie als auch der Nahrungsunsicherheit zu rechnen.