Eine Fabrik in Laborgröße
Sechs Stationen, 47 Laufbänder, mehr als 22 Jahre in Betrieb – an der Modellfabrik am Fachbereich Elektrotechnik und Informatik haben hunderte Studierende gelernt, wie Automatisierungstechnik funktioniert. Auch ihren Standort, das Labor für Steuerungstechnik, hat die Fabrik maßgeblich geprägt: Zwei Generationen von Professoren und Laboringenieuren haben viel Zeit und Herzblut in die Anlage investiert. Zum Wintersemester tritt nun eine neue Modellfabrik ihren Dienst an.Wie kann man Studierenden den Umgang mit sogenannten speicherprogrammierbaren Steuerungen (SPS) beibringen? Diese Frage beschäftigte Prof. Dr. Rainer Schmidt Ende der 90er-Jahre. Der damalige Leiter des Labors für Steuerungstechnik suchte nach einer Möglichkeit, seine Lehre interaktiver und praxisnaher zu gestalten. „Das Entscheidende war das Programmieren, das bereitete einigen Elektrotechnikstudierenden Probleme“, erinnert sich der inzwischen emeritierte Hochschullehrer. Mit einzelnen kleinen Stationen von „Fischertechnik“ fing er schließlich an, das Thema Automatisierungstechnik spielerisch zu vermitteln. „Das war damals ein Projekt von zwei Studierenden. Irgendwann kam allerdings die Idee, eine komplette Fabrik zu entwerfen. Sie sollte mehr Möglichkeiten bieten und sie sollte vor allem Spaß machen“, erklärt Schmidt.
Für Studieninteressierte war die Modellfabrik schon immer ein beliebtes Vorführprojekt – hier demonstrierte Prof. Dr. Rainer Schmidt die Anlage 2011 bei einem Informationsnachmittag am Fachbereich. (Foto: FH Münster/Pressestelle)
Gesagt, getan: Über einen früheren beruflichen Kontakt kam er mit dem Unternehmen Festo ins Gespräch, das auf Automatisierungstechnik für den industriellen Bedarf spezialisiert ist. „Die Katalogangebote gefielen mir nicht so richtig“, sagt Schmidt. Gemeinsam mit Festo überlegte er daher, wie man die Modellfabrik passgenau für seinen Lehrbedarf zusammensetzen könnte. „Es gab noch nicht mal eine Zeichnung!“, erinnert sich der Emeritus heute schmunzelnd. Als die einzelnen Stationen schließlich auf Europaletten geliefert wurden, hatten er und sein damaliger Laboringenieur Josef Lindenbaum alle Hände voll zu tun. „Das war wie ein Puzzle, das man zusammensetzen musste“, erzählt Schmidt.
Fast ein Jahr lang dauerte die Einrichtung der Hardware, die Software schrieb Schmidt selbst. „Noch während des Aufbaus kamen mir einige neue Ideen, die wir direkt umsetzten.“ So waren ursprünglich fünf Stationen vorgesehen, um mithilfe von kleinen Metallzylindern einen Produktionsprozess zu simulieren: die Sortierung, an der die Zylinder nach Höhe geordnet wurden, die Palettierung, an der sie auf kleine Wagen gesetzt wurden, ein Hochregal zur Lagerung, die Fertigung, um die Zylinder zu Türmen zu stapeln, und die Qualitätskontrolle. Das zentrale Fließband in der Mitte war als zusätzliche Arbeitsstation vorgesehen. Zur Inbetriebnahme der Modellfabrik im Wintersemester 1999/2000 ergänzte Schmidt die Produktion des Rohmaterials als reguläre sechste Station – auf diese Weise konnten die Studierenden jede Station in ihrem Tempo zum Laufen bringen und am Ende alles zusammenfügen. Nicht nur in der Lehre, sondern auch bei Studieninteressierten, die zum Beispiel am Fachhochschulinformationstag (FIT) das Labor besuchten, kam die Modellfabrik gut an.
2005 begrüßten Prof. Dr. Rainer Schmidt (r.) und der damalige ETI-Dekan Prof. Dr. Hans Effinger (l.) ihren indischen Gast A. V.S. Murthy von der Bangalore University sowie die damalige Leiterin des International Office Nicole Strate-Speidel im Labor für Steuerungstechnik. (Foto: FH Münster/Pressestelle)
Technisch war die Modellfabrik stets auf dem aktuellen Stand – und lange Zeit ein Alleinstellungsmerkmal. „Wir waren damals die einzige Hochschule, die so eine Anlage hatte“, betonte Schmidt. „Eine andere Hochschule hatte zu der Zeit zwar eine Fertigungsstraße mit Roboterarmen. So etwas wollten wir aber nicht.“ Das Besondere sei vor allem die Komplexität der Logistik gewesen – es gab mit Absicht das Problem, dass alle Bauteile und fertigen Produkte auf denselben Bändern transportiert werden mussten, um den Schwierigkeitsgrad beim Programmieren zu erhöhen. „Selbst der damalige Festomitarbeiter staunte über diese Idee“, berichtet Schmidt. Auch im Bereich Nachhaltigkeit war er als Vorreiter unterwegs: „Ich wollte nicht, dass Material verbraucht wird. Daher haben wir uns für stapelbare Zylinder und Paletten entschieden.“
Nur den Schritt in Richtung Industrie 4.0 überließ Schmidt seinem Nachfolger Prof. Dr. Falk Salewski und Laboringenieur Hendrik Kösters. „Josef Lindenbaum und ich haben uns damals nicht getraut, die Anlage an das Internet anzuschließen“, berichtet Schmidt. Kösters kam 2012 zur Anlage und spezialisierte sich auf ihre Hardware. Zwei Jahre später übernahm Salewski nach seiner Neuberufung die Koordination der Software – sehr zur Freude von Schmidt, der 2015 in den Ruhestand ging. „Es hätte mir sehr leidgetan, wenn niemand die Arbeit an der Anlage fortgesetzt hätte“, betont er. „Bei der Übergabe war Herr Schmidt sehr hilfsbereit“, erinnert sich Salewski. „Ich habe mir bestimmt 20 Seiten Notizen gemacht. Der Alterungsprozess der Anlage hat zum Glück erst angefangen, als ich schon einigermaßen drin war.“ Beeindruckt habe ihn, dass es auch 20 Jahre nach ihrem Aufbau noch passende Ersatzteile gab. „Das ist der Vorteil an Industrieelektronik“, erklärt er.
Im Laufe der vergangenen Jahre bauten Salewski und Kösters die Modellfabrik weiter aus. Viele Funktionen entstanden in studentischen Projektarbeiten. So gab es zuletzt einen Onlineshop und eigene Webseiten für jede Station, über die Nutzer*innen die aktuellen Abläufe kontrollieren und die Daten aller verbauten Sensoren und Aktoren einsehen konnte. Im vergangenen Semester wurde die Anlage schließlich abgebaut und durch eine neue Modellfabrik ersetzt, die noch mehr Technologien der Industrie 4.0 nutzt – vom maschinellen Lernen bis hin zu Energieeffizienz. „Das Nachfolgemodell ist im Prinzip die konsequente Weiterentwicklung der alten Anlage“, betont Kösters. „Eine Evolution in mehreren Etappen, an der viele Köpfe mitgewirkt haben.“ Schmidt gefällt die neue Modellfabrik, auch wenn ein wenig Wehmut dabei ist. „Man hängt doch irgendwie an den alten Stationen.“ Dass einige von ihnen weiterhin für Anschauungszwecke und Projektarbeiten eingelagert werden, freue ihn sehr. „Schön, dass die alte Anlage so auch weiterhin zum Einsatz kommt und Automatisierungstechnik vermittelt.“
Von Jana Schiller
Pressemitteilung vom 22. September 1999: Weichen sind gestellt für die AutomatisierungstechnikPressemitteilung vom 12. Oktober 2021: Neue Modellfabrik für den Fachbereich Elektrotechnik und Informatik
Video vom Abbau der alten Modellfabrik
Video vom Aufbau der neuen Modellfabrik