Zehn Jahre nach der Überschwemmung: „Starkregen-Demenz“ in Münster?

Seit Wochen regnet es fast jeden Tag. Starkregenereignisse wie am 28. Juli 2014 in Münster sind dennoch eine seltene Extremsituation. Trotzdem kein Grund sich in Sicherheit zu wiegen, erklärt Prof. Dr. Helmut Grüning, Experte für Stadthydrologie und Wasserversorgung und Dekan des Fachbereichs Energie – Gebäude – Umwelt unserer Hochschule, im Interview.

Herr Prof. Dr. Grüning, es ist nun bereits zehn Jahre her, dass die Straßen in Münster plötzlich unter Wasser standen. Was ist damals geschehen?

Urbane Sturzflut nennt sich das Phänomen, das 2014 Teile des Münsterlandes in eine Ausnahmesituation versetzte. Gemeint ist ein kurzer, dynamischer Starkregen, der für Überflutungen im städtischen Raum sorgt.

Wie unterscheidet sich dieses Ereignis von dem, was 2021 im Ahrtal oder im Juni dieses Jahrs in Süddeutschland passiert ist?

Hochwasser in diesen Ausmaßen entsteht nicht durch kurze und lokale Starkregen, wie einem klassischen Sommergewitter, sondern durch intensive Regenereignisse, die über Stunden und Tage anhalten. Zum Vergleich: Im Ahrtal fielen knapp 150 Liter Regen pro Quadratmeter in ein bis zwei Tagen, in Münster waren es damals fast 300 Liter pro Quadratmeter innerhalb von sieben Stunden. Das Problem im Ahrtal war, dass es vorher schon geregnet hatte und das Wasser auf gesättigte Bodenzonen traf, also die Bodenschicht, deren Hohlräume bereits vollständig mit Wasser gefüllt sind und die kein Wasser mehr aufnehmen können. Der Regen fiel zudem über eine Fläche von vielen Quadratkilometern. Das Wasser fließt dann über eine riesige Fläche in die Gewässer, wie der Ahr und den Nebengewässern, die über die Ufer treten und ganze Landstriche überfluten. Gefährlich wird es, wenn die Hochwasserwelle auf urbanen Raum trifft. Die Wassermassen reißen alles mit und Menschen verunglücken – auch weil sie möglicherweise nicht wissen, wie sie sich selbst bestmöglich in solch einer Situation verhalten müssen.

Wie würden geeignete Schutzmaßnahmen aussehen?

Absoluter Schutz ist nicht möglich. Aber wir müssen Vorsorge treffen. Erst einmal müssen sich die Menschen der Gefahr bewusst werden. Wasser fließt immer zum tiefsten Punkt. Bei Häusern ist das oft der Keller. Den sollte man bei Überflutungsgefahr niemals betreten! Gebäude in Muldenlagen sind besonders gefährdet. Hier können Gartenmauern oder druckdicht verschlossene Fenster und Türen helfen. Eine Rückstausicherung ist Pflicht. Wer in der Nähe eines Gewässers wohnt, muss sich bewusst machen, dass ein Hochwasser ein natürlicher Prozess ist, der immer wieder auftreten kann.

Wie können Städte Vorsorge treffen?

Wir müssen grundsätzlich zwischen einem Hochwasser und einer urbanen Sturzflut unterscheiden. Bei einem Hochwasser treten Fließgewässer über die Ufer. Hier braucht das Gewässer Platz zur Ausbreitung. Gewässernahes Bauen birgt Risiken. Bei einer urbanen Sturzflut ist der städtische Raum betroffen. Aber auch hier können gerade kleinere Gewässer, die mitten durch die Stadt fließen, plötzlich zu reißenden Strömen werden. Wir benötigen in den Städten eine gezielte Wasserführung, um die Abflüsse in Bereiche zu leiten, die schadarm überfluten können. Außerdem muss Wasser versickern und verdunsten können. Ein Beispiel für Maßnahmen der blau-grünen Infrastruktur sind urbane Wasserflächen wie der Aasee in Münster. Das ist ein Regenrückhalteraum, der auch noch zahlreiche weitere Funktionen wie Freizeitnutzung oder Kühlwirkung liefert.

Wie schätzen Sie die Lage in Münster ein? Hat sich nach den Ereignissen 2014 etwas in der Stadt und im Bewusstsein der Menschen im Münsterland getan?

Das Risikobewusstsein ist im Bereich der Verantwortlichen in den Kommunen vorhanden. Bei kleineren Kommunen fehlt allerdings häufig das Fachpersonal, um erforderliche Maßnahmen umzusetzen. Bei der Stadt Münster ist das Engagement groß. Beispielsweise werden Starkregengefahrenkarten erstellt, um Risikobereiche zu identifizieren. Darüber hinaus werden Konzepte zur Etablierung von urbanem Grün entwickelt und umgesetzt. Ein Beispiel sind Baumrigolen, um Bäume in Trockenphasen zu bewässern und dezentrale Rückhalteräume zu schaffen. In Bezug auf das Bewusstsein der Bevölkerung sieht es leider oft anders aus, da hat sich meiner Erfahrung nach nicht viel getan. Die Menschen vergessen, dass auch hier vor Ort jederzeit die Gefahr von Überflutung besteht und unterschätzen das Risiko, das damit einhergeht. Bei den Menschen im Ahrtal erlebe ich allerdings nach wie vor Ängste, wenn in den Medien vor Starkregen gewarnt wird.

In den Medien hört man in diesem Zusammenhang häufig den Begriff „Starkregen-Demenz“. Was ist damit gemeint?

Es ist ein menschliches Phänomen, dass unangenehme Ereignisse verdrängt werden oder die Verantwortung auf Andere übertragen wird. Insofern ist die „Starkregen-Demenz“ verbunden mit der Hoffnung, dass solche Extremwetter hoffentlich nicht in meinem Umfeld auftreten. Bei Umfragen wird oft das „100-jährliche Ereignis“ genannt, verbunden mit der Erwartung, dass so schnell nichts mehr passieren wird. Leider ist das eine fatale Fehleinschätzung. Die erwähnten 100 Jahre sind eine rein statistische Größe und Zufall hat leider kein Gedächtnis. Wir müssen darüber hinaus berücksichtigen, dass die Erderwärmung dazu beiträgt, dass Wasser zunehmend in der Atmosphäre gespeichert wird und damit das Risiko des Starkregens deutlich zunimmt.

Was kann ich als Individualperson denn machen, um mich und mein Zuhause vor solchen Überflutungen zu schützen?

Wir müssen Städte wasserbewusster gestalten. Das beginnt im eigenen Haus und Garten. Gründächer und die bereits erwähnten Rückstausicherung mindern das Risiko. Zudem hilft eine Elementarschadenversicherung, um nach einer Überflutung den wirtschaftlichen Schaden zu begrenzen. Weiterhin muss das Bewusstsein für Wasser verstärkt werden. Die Kanalisation ist bei ausgeprägten Starkregen schlicht überfordert. Hier müssen Privatpersonen, Stadt- und Raumplanung, Politik und viele mehr gemeinsam an Lösungen arbeiten. Wir müssen uns zudem bewusst machen, dass es Geld kosten wird, die unterschiedlichen Maßnahmen umzusetzen. Allerdings bin ich davon überzeugt, dass es viel teurer wird, wenn wir nichts tun…

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