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Kooperationsprojekt mit der Hochschule Hannover: Digitalisierung komplexer Inhalte: The big 5 online

Die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie verdeutlichen die Relevanz digitaler Lehre an Hochschulen. Der Bedarf, wissenschaftliche Inhalte webbasiert oder technikgestützt zu vermitteln ist hoch. Dennoch beschränken sich viele digitale Lehr-Lernformate auf das bloße Abfilmen von Vorlesungen oder das unveränderte Übertragen von Inhalten und Methoden aus der Präsenzlehre in online zugängliche Formate. Diese Vorgehensweise vernachlässigt folgende Aspekte, die für einen Lernerfolg und damit letztlich auch für einen Studienerfolg zentral sind:



  • Digitale Lehre erfordert spezifische Vermittlungsformen, die auf das Lernen allein zu Hause oder für Formen digitalen Austauschs (Chat, Messenger Dienste) abgestimmt sind.

  • Digitale Lehre stellt andere Anforderungen an Konzentration und Aufmerksamkeitsspanne als Präsenzlehre.

  • Zwischenmenschliche/soziale Aspekte der Lehre (Peer-to-Peer Lernen, direkte Rückfragen, Erfahrungslernen) und der Lerninhalte (Verhaltensreflexion, Selbst- und Fremdwahrnehmung) bei der digitalen Lehre können bisher allenfalls rudimentär vermittelt werden.


Folglich ist eine unveränderte Übertragung von Präsenzlehrinhalten und -methoden auf digitale Lehr-/Lernformen weder sinnvoll noch zielführend. Stattdessen ist es sinnvoll, an die Digitalisierung angepasste Lehr-Lern-Konzepte zu entwickeln. Hierzu gehören innovative digitale Lernformate, die erfolgreich nicht nur an Hochschulen, sondern auch in Unternehmen und Fortbildungsinstituten eingesetzt werden können.


Digitale Lernformate sind bislang vor allem dann erfolgreich, wenn Lerninhalte eher linear und nicht zu detailreich sind, wenn es um die Vermittlung von Prozessen oder Abläufen geht (Erklärvideos), wenn einfache oder eher technische Kompetenzen eingeübt werden sollen, wenn eher Reproduktions- als Transferanforderungen gestellt werden (Webinare), wenn der Grad an notwendigem Austausch nicht zu interaktiv oder zu komplex ist und Transfer oder Anwendung der Lerninhalte kaum oder keine zwischenmenschlichen/sozialen Aspekte beinhalten. Solche Lerninhalte machen aber nur einen (je nach Fach: kleinen) Anteil der Hochschullehre aus. Wissenschaftliche Inhalte an Hochschulen zeichnen sich in der Regel demgegenüber eher aus durch:



  • eine hohe Komplexität

  • einen hohen Abstraktionsgrad

  • Diskursivität und Widersprüchlichkeit von Inhalten: es gibt nicht nur eine Theorie, sondern mehrere nebeneinander, die es zu reflektieren und zwischen denen es zu entscheiden gilt.


Insbesondere an den Hochschulen für angewandte Wissenschaften kommt hinzu, dass



  • der Transfer von Theorie in Praxis eine zentrale Anforderung ist

  • häufig zwischenmenschliche/soziale Aspekte zentraler Bestandteil der Lerninhalte und des Transfers sind, wie beispielsweise soziale und personale Kompetenzen, Führungskompetenzen, Beratung, motivierende Gesprächsführung, Gesprächssteuerung oder Moderation.


Diese Aspekte werden in der digitalen Lehre bislang nur unzureichend abgebildet, da es an Ansätzen und Methodik fehlt, komplexe Inhalte und soziale Interaktionen digital verlustfrei umzusetzen. Dementsprechend sind die Lernergebnisse beim Einsatz digitaler Medien für viele Inhalte, die für Fachhochschulen zentral sind, unbefriedigend.

Das Kooperationsprojekt verfolgt konkret zwei Ziele:



  1. Digitalisierung komplexer Inhalte: Komplexe wissenschaftliche Inhalte sollen so in digitale Lernformen übersetzt werden, dass die kognitiven, motivationalen und sozialen Bedingungen digitalen Lernens berücksichtigt werden. Der Grundsatz lautet: So einfach wie möglich, aber nicht einfacher. Dazu gehören etwa der Einsatz visueller Stukturierungshilfen, angeleitete Rechercheaufgaben zum Verstehen komplexer Sachverhalte, Einsatz motivierender Meilenstein-Etappenziele, neue Formen der Selbstlernkontrolle, angeleiteter Austausch über zielgruppenspezifische Medien (WhatsApp/Instagram) und angeleitete Pausen-/Motivationsabschnitte (Spaß).

  2. Soziales Lernen 2.0: Soziale Lerninhalte sollen in digitale Lernformen übersetzt werden. Es soll anhand digitaler Vermittlungsformen experimentiert werden, welche interaktiven oder sozialen Aspekte des Präsenzlernens sich in welche Formen digitalen Lernens übersetzen lassen. Ob und wie etwa physische Kontakte, Erfahrungslernen oder Verhaltensreflexionen ins Digitale transferierbar sind, ist bislang wenig erforscht und wahrscheinlich auch von Themen und Anforderungen abhängig. Daher ist die Zielsetzung des Projekts hier vor allem, Möglichkeiten und auch Grenzen auszuloten.


In der Anwendung hätten die neuen digitalen Lerneinheiten dann den Vorteil, nicht nur in Situationen wie in der COVID-19-Pandemie zeitnah eingesetzt werden zu können, sondern vor allem den Studierenden im Studienalltag mehr Flexibilität beim Lernen zu ermöglichen, weil sie nicht regelmäßig und zeitlich synchron zu diesen Veranstaltungen an der Hochschule erscheinen müssen. Die neuen digitalen Lerneinheiten sollen die Präsenzlehre also nicht ersetzen, sondern ergänzen und verbessern.


 

Ausgangspunkt war eine Lerneinheit im Präsenzseminar, welche mit einer Kurzvorstellung des 5-Faktoren-Modells der Persönlichkeit mit seinen 5 Dimensionen (Faktoren) und 30 Facetten als PowerPoint-Präsentation startete. Hier wurden Hinweise zu möglichen Missverständnissen des Modells, etwa die etwa die unterschiedliche Bedeutung von Begriffen in der Fachsprache im Vergleich zur Umgangssprache hingewiesen. Als praktische Anwendung folgte der Bezug des Modells auf konkrete Personen im direkten Diskurs mit den Studierenden. Auch hier wurde auf zahlreiche Fehlermöglichkeiten aufmerksam gemacht, wie beispielsweise Halo-Effekte. Die Studierenden konnten anhand der Beispiele die Anwendung des Modells unmittelbar miteinander diskutieren. Hier waren informelle „Nebengespräche“ und der Austausch in „Flüstergruppen“ integraler Bestandteil der didaktischen Idee. Auch die folgende Selbsteinschätzung der Studierenden mit anschließendem Austausch in Kleingruppen profitierte von der Unmittelbarkeit des Präsenzformates und den vielfachen informellen Rückmeldungen durch Kommilitonen. Dabei kamen viele Nachfragen auf, weil jetzt jeder Begriff bewertet wird (jede Facette) und viele Studierende dabei feststellten, dass sie noch ein unscharfes Begriffsverständnis hatten. Ein weiterer Theorieteil klärte diese Fragen, im Anschluss werden offen gebliebene Fragen im Plenum besprochen. Zudem wird Textmaterial zum Modell zur Verfügung gestellt. Um die Komplexität der Anwendung zu steigern werden danach bei einzelnen Personen bestimmte Facetten fiktiv verändert, um zu zeigen, wie die Persönlichkeit schon bei geringen Änderungen nach außen eine ganz andere Wirkung entfalten kann.


Diese Lerneinheit wurde nun für digitale Lehre neu aufbereitet. Dabei wurde eine bloße Vorlesungssequenz vermieden, vielmehr sollten den Studierenden ebenso wie in der Präsenz, die Möglichkeit zur kritischen Reflexion des Modells durch Austausch und zur Kompetenzentwicklung durch die Anwendung des Modells erhalten. Gleichzeitig sollte die Komplexität des Modells vermittelt werden und eine zu starke Vereinfachung, etwa durch Reduktion nur auf die Faktoren und eine Vernachlässigung der detaillierteren Facetten umgangen werden. Die Aufmerksamkeitsspanne bei digitaler Vermittlung sollte ebenso Berücksichtigung finden wie die, teilweise asynchronen, digitalen Austauschmöglichkeiten per Chat, in Foren oder durch Meeting Tools wie Zoom (Csanyi 2012). Im Ergebnis wurde ein Mix aus verschiedenen Medien und Arbeitsmethoden konzipiert: Es wurden zunächst kurze Videos zur Vermittlung zentraler Inhalte produziert. Zur Verdeutlichung der Komplexität des Modells und zur Motivation zum Austausch und zu Selbstlerneinheiten werden ergänzend verschiedene Lerntools eingesetzt, wie etwa Podcasts, Selbstlernaufgaben und Kleingruppenarbeit in Livemeetings oder Foren per Moodle oder per Zoom. Mittels dieser verschiedenen Lerntools kann auf spezielle und vertiefende Aspekte eingegangen werden.


Die Videos wurden professionell produziert, um nicht nur in der Gestaltung den Sehgewohnheiten der Rezipienten zu entsprechen, sondern gleichzeitig einladend zu wirken sowie die Inhalte im Sinne einer kohärenten Geschichte zu verbinden und entsprechend aufzubereiten und nicht nur Fakten aneinanderzureihen. Diese Videos sollen zu einer erweiterten Auseinandersetzung mit dem Fünf-Faktoren-Modell anregen und zum Selbstlernen motivieren. Das ist ein erheblicher Faktor für viele, die zum ersten Mal mit digitaler Lehre ohne Gruppengefühl konfrontiert sind. Die Drehbücher für die Videos wurden von den beiden Lehrenden der Hochschule Hannover und der Fachhochschule Münster gemeinsam mit der Produktionsfirma Philosofilm aus Hannover erarbeitet. Philosofilm übernahm die Umsetzung der Videos. Die ergänzenden Tools wie Podcasts etc. verantworteten die Lehrenden. Im Folgenden werden die Videos als zentrales Element mit Möglichkeiten zum Anschluss von Aufgaben und Selbstlernaufgaben in variierbaren Schwierigkeitsgraden vorgestellt.


Das Modell wird in insgesamt sechs Videofilmen à 1,5-2,5 Minuten erklärt. Der erste Film stellt dabei den Einstieg in das Thema dar, während die folgenden fünf Filme sich jeweils einer Dimension des Modells widmen. Die Detailtiefe und speziell die Komplexität der Inhalte steigt dabei von Film zu Film leicht an, weil schrittweise mehr Faktoren hinzukommen und Facetten innerhalb eines Faktors variiert werden. Ergänzt werden die Videos von Textmaterialien zum Modell, die ebenso im Präsenzseminar zur Verfügung gestellt werden. Um vor möglichen Missverständnissen zu warnen, spielen die Videos mit der Erwartungshaltung der Rezipienten: wann immer sich ein verkürztes Verständnis einstellen könnte, greift der Film ein Beispiel heraus, welches illustriert, warum möglicherweise zu einfach gedacht wurde. Der erzählerische Blick wechselt also stetig zwischen Verallgemeinerung und Spezifizierung, bis in der Kombination aus Erklärungen und Beispielen ein umfassendes Bild des Modells entstanden ist. Damit die Videos Studierenden mit unterschiedlichen Wissens- und Lernvoraussetzungen den Einstieg in die Materie erleichtern, müssen sehr einprägsame Visualisierungsbeispiele gewählt werden. Sie müssen wegen der Kürze der Videos möglichst voraussetzungsfrei sein, ein hohes Abstraktionsniveau haben und zugleich eine spezifische Einprägsamkeit aufweisen. Nur so hilft das Beispiel dabei, einen Sachverhalt schneller zu verstehen und zugleich Transfer und Anwendung des Modells anzuregen. Kernproblem ist die Balance zwischen Abstraktion und Kürze der Darstellung (Wolf, 2015). Zusammengefasst soll das Onlineseminar mit den sechs Videos zum Fünf-Faktoren-Modell der Persönlichkeit Folgendes bieten:


 


1. einen Einstieg in das Modell


2. Anschlussfähigkeit für weiterführende Erklärungen wichtiger Schlüsselstellen


3. Aufzeigen der komplexen Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Faktoren und Facetten


4. Motivation zum Erlernen und Vertiefen durch Unterhaltungsfaktor


5. Übertragbarkeit durch Abstraktion


 


Um das Modell bei aller Abstraktion griffig genug zu machen und auch den Anforderungen an Rezipierbarkeit und Unterhaltungsfaktor nachzukommen, wird das Fünf-Faktoren-Modell in den Videos repräsentiert durch eine fünfköpfige fiktive Rockband eben: „The Big Fives”. Dieses Setting nimmt Bezug auf die Lebenswelt Studierender: Jeder kennt und mag mindestens eine Band bzw. einen Musiker. Dabei wird mit Stereotypen zu Rockbands gespielt.


 


Jeder der fünf Musiker illustriert dabei eine der fünf Faktoren des Modells. Dies darf durchaus etwas klischeehaft oder überzogen geschehen, weil es das erste Verstehen erleichtert. Auch bei der optischen Animation der Figuren wurden die Faktoren berücksichtigt. Zugleich verdeutlichen die Interaktionen zwischen den Bandmitgliedern und in unterschiedlichen Situationen die Komplexität jedes Individuums und vor allem die Alltagsfolgen, wenn unterschiedliche Persönlichkeiten im Alltag aufeinandertreffen. Dabei wird auch vereinzelt die Anwendbarkeit des Modells im Sinne einer Prognosemöglichkeit von Handlungen aufgegriffen, aber eben stets im Zusammenhang


einer wertfreien Beschreibung von Persönlichkeitseigenschaften (Faktoren). Die fünf Charaktere sind latent archetypisch angelegt, da sie so unterhaltsamer, aber vor allen Dingen auch greifbarer sind. Zugleich weisen auf den ersten Blick völlig verschiedene Persönlichkeiten mitunter in manchen Situationen erstaunliche Ähnlichkeiten auf, was das Modell weiter verstehen hilft. Auch wenn es in dieser zunächst ungewöhnlich erscheinenden Konstellation von Persönlichkeiten häufiger Konflikte gibt, funktioniert die Band als Team, bezogen auf das Modell also alle Elemente einer Persönlichkeit zusammen, erstaunlich gut. Durch die Gegenüberstellung der Charaktere in bestimmten Situationen wird erläutert, wie sich Persönlichkeitsstrukturen exemplarisch auswirken.


Dabei wird stets die Kernbotschaft mittransportiert, dass es nicht so einfach ist, Persönlichkeiten konkret einzuschätzen. Die Anwendung des Fünf-Faktoren-Modells kann aber helfen, sich zumindest einen Überblick zu verschaffen, um bestimmte Zusammenhänge und Verhaltensweisen zu verstehen und richtig zuzuordnen und ggf. sogar zukünftiges Verhalten einschätzen zu können. Und die Videos sind nur der Einstieg in das Thema, kein vollwertiger Ersatz eines mehrstündigen Seminarteils in Präsenz.


Das Ergebnis des Projekts ist die 6 teilige Online-Videolearning Reihe "The big Fives", die 2021 mit dem „Let’s get digital“ Award des Bundesverbandes Hochschulkommunikation und der Zeitung "Die Zeit" ausgezeichnet wurde.


Die Playlist mit allen Videos finden Sie unter: https://www.youtube.com/playlist?list=PL1UYUvUYuYRQUh69yG19zH1FO_lZdNody

 

Projektleitung


Prof. Dr. Ruth Linssen M.A.
Fachbereich Sozialwesen
Friesenring 32
48147 Münster
Tel: 0251 83-65819
Fax: 0251 83-65702

linssenfh-muensterde

Prof. Dr. Sven Seibold, Hochschule Hannover, Fakultät Wirtschaft

Projektzeitraum


vom 16.03.2020 bis 15.03.2021

Finanzierung


  • Studienbeitragsmittel der Abt. BWL der Hochschule Hannover

Weitere Informationen:


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