Was wiegt schwerer: das Recht des Staats oder des Menschen?

1. Münsterscher Kongress zur Humanitären Hilfe beschäftigte sich mit internationaler Soforthilfe


Dallaire, Gardemann
General Roméo Dallaire, Mitte der 90er Jahre Kommandant der UN-Blauhelmtruppen in Ruanda, im Gespräch mit Prof. Dr. Joachim Gardemann, Leiter des Kompetenzzentrums Humanitäre Hilfe der Fachhochschule Münster.
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Münster (20. Mai 2011). „Es gibt eine ärztliche Meldepflicht von Cholera an die Weltgesundheitsorganisation. Warum gibt es eigentlich noch keine Meldepflicht für genozid-typische Verletzungsmuster an den Weltsicherheitsrat?" Mit dieser Frage leitete Prof. Dr. Joachim Gardemann von der Fachhochschule Münster den 1. Münsterschen Kongress zur Humanitären Hilfe am Freitag (20. Mai) im Rathaus des Westfälischen Friedens in Münster ein. Er verdeutlichte damit die im Titel „Internationale Soforthilfe - eine Gratwanderung" angedeuteten Probleme, denen internationale Hilfsorganisationen in ihren Einsätzen aufgrund der schwierigen Rechtslage immer wieder begegneten.

Die Resonanz auf den ersten Kongress dieser Art in Münster war überwältigend. Rund 250 Gäste begrüßte FH-Präsidentin Prof. Dr. Ute von Lojewski im voll besetzten Festsaal des Rathauses - ein deutliches Zeichen für die hohe Aktualität des Themas. Alle Anwesenden beschäftigte die umstrittene Frage, unter welchen Voraussetzungen internationale Hilfsorganisationen helfen dürfen, wenn Menschen in einem Land in Not geraten - sei es durch Naturkatastrophen oder durch die Folge von Bürgerkriegen. Bereits im Vorfeld war klar, dass diese Frage nicht einfach zu beantworten sein würde. Denn hier treffen zwei Prinzipien aufeinander, die sich widersprechen können: Völkerrecht und Menschenrecht.

„Nach dem Erdbeben in Haiti 2010 mussten wir in Gegenwart von rund 10 000 amerikanischen Soldaten arbeiten, für deren Präsenz zunächst keine völkerrechtliche Grundlage vorlag." Damit benannte Gardemann die Schwierigkeit, Hilfseinsätze in souveränen Staaten mit den Gesetzen des Völkerrechts zu vereinbaren. Der Mediziner leitet das Kompetenzzentrum Humanitäre Hilfe der Fachhochschule Münster und ist in seinen regelmäßigen Einsätzen in Krisengebieten diesem Dilemma häufig begegnet.

Dr. Rudolf Seiters, Präsident des Deutschen Roten Kreuzes (DRK), bestätigte dieses Problem und beschrieb ein Gefühl der Hilflosigkeit: „Viele fühlen, dass sie handeln müssten, wo sie nicht handeln dürfen." Hilfe könne nicht gegen den Willen der betroffenen Staaten geleistet werden. „Das ist die Rechtsgrundlage - basierend auf dem Völkerecht".

Dieser Rechtsgrundsatz der internationalen Beziehungen gehe letztlich auf den Westfälischen Frieden von Münster und Osnabrück im Jahr 1648 zurück und verbiete bis heute grundsätzlich die Einmischung in die inneren Angelegenheiten souveräner Nationalstaaten, so der Historiker Prof. Dr. Franz-Josef Jakobi. Der Friedensschluss sei die Geburtsstunde des „Westfälischen Systems" und damit auch der Ausgangspunkt der modernen Diplomatie zwischen Nationalstaaten. „In der heutigen Zeit der zunehmenden innerstaatlichen Konflikte und Menschenrechtsverletzungen ist dieses Westfälische System allerdings in die Krise geraten", sagte der Leiter des Arbeitskreises 1648 - Dialoge zum Frieden. Es stelle sich die Frage, ob die Weltöffentlichkeit tatenlos zusehen dürfe, wenn Regime die Rechte ihrer Bürger missachteten.

Folgen der Tatenlosigkeit in Ruanda

Welche Folgen das Prinzip der Nichteinmischung haben kann, stellte General Roméo Dallaire, Mitte der 90er Jahre Kommandant der UN-Blauhelmtruppen in Ruanda, dar. Milizen der Hutu hatten 1994 einen Genozid an den Tutsi begangen, bei dem über 800 000 Menschen ums Leben kamen. Dallaire musste das Morden mit ansehen, da ein Eingreifen mit seinen leichtbewaffneten und zahlenmäßig unterlegenen UN-Soldaten unmöglich gewesen sei. Die internationale Staatengemeinschaft hatte sich geweigert, die Zahl der Friedenstruppen aufzustocken, obwohl Dallaire eindringlich an den Sicherheitsrat appellierte und von Völkermord sprach. „Die Staatengemeinschaft schickte ihre Soldaten erst, nachdem die Katastrophe schon passiert war", sagte der Kanadier, der die Vereinten Nationen bis heute scharf für ihre Entscheidung kritisiert. „Ruanda hat keine Ressourcen und ist geopolitisch unbedeutend - die Menschen, die ums Leben kamen, waren aber offensichtlich kein Kriterium für eine Intervention."

Oberstes Ziel müsse es sein, derartige Krisen künftig vor einer Eskalation abzuwenden. Die Komplexität solcher ethnischer Konflikte, deren innere Logik für Außenstehende oft nicht leicht zu verstehen sei, fordere jedoch eine größere Geduld und ein Verständnis für kulturelle Zusammenhänge. Es sei an der Zeit, von einer kurzfristig denkenden Politik abzurücken und neue Formen des politischen und kulturellen Dialogs zu finden, welche die Gleichheit der Menschen wieder in den Vordergrund rücke.

Keine Rechte ohne Pflichten

Prof. Dr. Frank Chalk von der Concordia University in Montreal betonte, dass ein Staat sein Recht auf Souveränität nur dann beanspruchen könne, wenn er auch seinen Pflichten nachkomme. „Staatliche Souveränität ist ein Privileg, das verdient werden muss durch den Respekt zwischen Staat und Staatsangehörigen". Wenn Regierungen dieses Privileg jedoch einsetzten, um ungestört gegen die Rechte der Bevölkerung zu verstoßen, müsse schnell und entschlossen eingegriffen werden. „In diesen Fällen zu intervenieren, ist ethisch und moralisch richtig", bezog Chalk klar Stellung. Es bedürfe einer „Strategie der Mobilisierung", die in jedem einzelnen Land ansetze und die Zivilgesellschaft zu einem ständigen Dialog über die Einhaltung der Grundrechte anhalte. „Dazu ist eine Schulung der Öffentlichkeit notwendig, eine unaufhörliche Öffentlichkeitsarbeit für die Menschenrechte."

Prof. Dr. Ted van Baarda von der Netherlands Defence Academy in Den Haag zeigte an einem Beispiel, dass das Kongressthema auch die deutsche Geschichte berührt. 1935 war der Hochkommissar des Völkerbundes für Flüchtlinge zurückgetreten. Er hatte die Vorbereitung der Nationalsozialisten zum Holocaust erkannt, ausführlich beschrieben und den Völkerbund daraufhin zur Intervention aufgerufen. Mit dem Verweis auf die Souveränität des Deutschen Reiches griff die Staatengemeinschaft jedoch nicht ein - und der Genozid forderte über sechs Millionen Opfer.

Prof. Dr. Reinhard Meyers von der Universität Münster sprach in seinem Vortrag „From Westphalia to Westfailure" über die Aussichten einer Veränderung des Systems internationaler Beziehungen. Angesichts der Globalisierung mit ihren Folgen wie asymmetrischer Kriegsführung, globaler Bedrohungen durch Atomwaffen und Umweltkatastrophen und der Zunahme innerstaatlicher Konflikte sei darüber nachzudenken, welche Alternativen für das staatenbasierte Modell der internationalen Beziehungen künftig denkbar seien.

Während einer abschließenden Podiumsdiskussion erörterten die Referenten mit weiteren Fachleuten und den Gästen schließlich die zahlreichen Fragen, die während des Vormittags aufgekommen waren. Gardemann fasste in einem abschließenden Statement die Ergebnisse des Kongresses zusammen.

Die Fachhochschule Münster, sein Kompetenzzentrum Humanitäre Hilfe und die Stadt Münster haben gemeinsam als Mitglieder der Allianz für Wissenschaft den Kongress organisiert und wurden dabei unterstützt von der Sparkasse Münsterland Ost und dem Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft.




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