Mangelernährung im Blick
Vom 11. bis 15. November 2024 läuft die Malnutrition Awareness Week. Diese Woche soll die Aufmerksamkeit auf die Mangelernährung lenken. Wir nehmen sie zum Anlass für ein Interview mit Dr. Mats Wiese. Der Ernährungswissenschaftler ist seit November 2024 Nachwuchsprofessor für Ernährungsmedizin bei uns am Fachbereich Oecotrophologie · Facility Management.
Dr. Mats Wiese ist seit November 2024 Nachwuchsprofessor für Ernährungsmedizin am Fachbereich Oecotrophologie · Facility Management (OEF) der FH Münster. Einer seiner Forschungsschwerpunkte ist die Mangelernährung. (Foto: FH Münster/OEF)
Einer deiner Schwerpunkte in der Forschung ist die Diagnostik und ernährungsmedizinische Therapie von Mangelernährung, die mit Krankheiten verbunden ist. Womit genau beschäftigst du dich dabei?
Dr. Mats Wiese: Bei der sogenannten krankheitsassoziierten Mangelernährung kommt es infolge einer zugrunde liegenden Erkrankung zu einer unzureichenden Aufnahme beziehungsweise Absorption von Nahrung, was zum Abbau von Körpermasse führt. Das ist ein Riesenproblem, denn eine krankheitsassoziierte Mangelernährung resultiert in einer reduzierten körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit sowie einem schlechteren klinischen Verlauf, einschließlich einer gesteigerten Sterblichkeit. Frühzeitige Diagnostik und adäquate Therapien sind daher extrem wichtig. Es gibt allerdings noch ganz viele ungeklärte Fragen dazu, wie Diagnostik und Therapie idealerweise erfolgen sollten. Mit der Beantwortung genau dieser Fragen beschäftige ich mich.
Thema deiner Promotion war Mangelernährung bei chronischer Pankreatitis, der Entzündung der Bauspeicheldrüse. Was waren dabei bemerkenswerte Ergebnisse?
Unter anderem konnten wir nachweisen, dass Mangelernährung bei Menschen mit chronischer Pankreatitis ein sehr großes Problem ist. In unseren Untersuchungen haben wir festgestellt, dass etwa 2 von 3 Patienten betroffen sind. Wir konnten aber auch demonstrieren, dass die Mangelernährung durch eine intensivierte Ernährungstherapie erfolgreich behandelt werden kann. Die Intervention verbesserte dabei bemerkenswerterweise nicht nur den Ernährungszustand, sondern auch die Krankheitsprognose – und das bei einer unheilbaren Erkrankung.
Wie groß ist das Problem der Mangelernährung hierzulande?
Mangelernährung ist leider ein sehr großes Problem, auch in Deutschland. Vielen Menschen ist das allerdings nicht präsent, da Mangelernährung hierzulande vor allem mit Bildern von hungernden Kindern in Entwicklungsländern verknüpft wird. Tatsächlich sind jedoch 20 bis 30 % aller Menschen in deutschen Krankenhäusern von Mangelernährung betroffen. In Pflegeheimen sieht es ähnlich aus. Da das Bewusstsein für diese Problematik fehlt, zum Teil auch bei Personen, die im Gesundheitswesen tätig sind, sind Aktionen wie die Malnutrition Awareness Week extrem wichtig. Denn das Bewusstsein für die Existenz eines Problems ist Voraussetzung dafür, dass dieses gelöst werden kann.
Was sind die wichtigsten Ursachen für Mangelernährung?
Die Ursachen von Mangelernährung sind vielfältig und können individuell variieren. Neben akuten und chronischen Erkrankungen stellen unter anderem Appetitlosigkeit, Schwierigkeiten beim Kauen und Schlucken, die Einnahme bestimmter Medikamente oder auch einfach fehlende Unterstützung beim Essen und Trinken für diesbezüglich eingeschränkte Personen relevante Ursachen für Mangelernährung dar. Fehlende Verfügbarkeit von Nahrung ist in Deutschland hingegen als Ursache eine Ausnahme. Auch spezifische Nährstoffmängel infolge einer sehr einseitigen Ernährungsweise sind vergleichsweise selten festzustellen.
Wie wird Mangelernährung eigentlich diagnostiziert und therapiert?
Das ist eine interessante Frage, mit der man ganze Vorlesungen füllen kann. Aber vielleicht in Kürze: In der Vergangenheit wurden viele unterschiedliche Parameter für die Diagnostik herangezogen, das heißt die Diagnose erfolgte überhaupt nicht einheitlich. Seit ein paar Jahren gibt es mit den Kriterien der Global Leadership Initiative on Malnutrition (GLIM) erfreulicherweise internationale Konsenskriterien. Ein ganz wichtiger Punkt, der in diesen Kriterien verankert wurde, ist unter anderem, dass Mangelernährung nicht ausschließlich durch ein niedriges Körpergewicht definiert ist. Vielmehr müssen auch ein ungewollter Gewichtsverlust und eine verringerte Muskelmasse im Kontext von Krankheit berücksichtigt werden. Bei der Therapie muss natürlich auch die jeweils zugrunde liegende Krankheit berücksichtigt werden. Ein gemeinsamer Nenner ist aber sicherlich, dass eine strukturierte, individualisierte Ernährungstherapie, idealerweise durch ein multiprofessionelles Team, erfolgen sollte, um Mangelernährung erfolgreich zu behandeln.
Was müsste geschehen, damit die Zahl von Mangelernährten in Deutschland stark abnimmt?
Tatsächlich müsste sich unser Gesundheitssystem hierfür sehr stark ändern, was ohne gesetzliche Änderungen aber kaum möglich sein dürfte. Die Einführung eines verpflichtenden Screenings auf Mangelernährung sowie die Etablierung von qualifizierten Ernährungsteams zur Umsetzung einer adäquaten Ernährungstherapie in deutschen Kliniken sind entscheidende Maßnahmen und werden von Fachgesellschaften daher bereits seit geraumer Zeit gefordert. Auch verpflichtende Standards zum Beispiel hinsichtlich der Essenverpflegung würden helfen. Letztendlich bedarf es hierfür aber eines entsprechenden politischen Gestaltungswillens. Da dieser bislang aber an entscheidenden Stellen fehlte, wäre ein breites Bewusstsein für die Problematik zunächst einmal ein wichtiger Schritt.