Fachkräftemangel in Therapieberufen: Akademisierung könnte helfen

50 Prozent der Logopädinnen und Logopäden, Ergo- und Physiotherapeutinnen und -therapeuten denken darüber nach, aus ihrem Beruf auszusteigen. Der Grund: schlechte Bezahlung, geringe Wertschätzung, fehlende Weiterentwicklungsmöglichkeiten. Die Folge: massiver Fachkräftemangel. Warum die Akademisierung daran etwas ändern könnte, erklären Prof. Dr. Anke Kohmäscher und die Masterstudentinnen Laura Blume und Maike Lippert.

Prof. Kohmäscher, Sie plädieren für eine hochschulische Ausbildung. Warum?

Kohmäscher: Weil ich überzeugt bin, dass das ein ganz wichtiger Faktor ist, um die Berufe attraktiver zu machen. Dabei geht es nicht nur um den akademischen Abschluss. Sondern auch darum, neues Wissen aus der Forschung in die Praxis zu übertragen und sein eigenes Handeln, auch im Hinblick auf neue Erkenntnisse und gesellschaftliche sowie gesundheitsbezogene Entwicklungen, immer wieder zu reflektieren und anzupassen. Wer studiert, ist mit selbstständigem Lernen vertraut, kann evidenzbasiert und interprofessionell – also zusammen mit anderen Fachdisziplinen – arbeiten. Genau solche Kompetenzen sind besonders in Gesundheitsberufen wichtig. Eine dreijährige schulische Ausbildung, wie sie bislang erfolgt, kann solche Fähigkeiten nur eingeschränkt vermitteln. Damit meine ich aber nicht, dass die jetzige Ausbildung per se schlecht ist. Das ist definitiv nicht der Fall. Doch die Therapieberufe verändern sich: Durch den demographischen Wandel, eine Zunahme chronischer, teils komplexer Erkrankungen, die Digitalisierung und Technisierung im Gesundheitswesen sowie eine Gesellschaft mit unterschiedlichen Kulturen und Hintergründen gibt es zahlreiche neue Herausforderungen, die bewältigt werden müssen. Ein Studium kann die dafür erforderlichen Kompetenzen anbahnen.  

Bislang reicht ein Hauptschul- oder Realschulabschluss, um die dreijährige schulische Ausbildung zu beginnen. Würde die Akademisierung nicht zahlreiche Menschen ausschließen?

Blume: Dazu gibt es Zahlen, die das ganz klar widerlegen. Schon jetzt verfügen 50 bis 90 Prozent der Berufsanfängerinnen und -anfänger unter den Logopädinnen und Logopäden, Ergo- und Physiotherapeutinnen und -therapeuten über eine Hochschulzugangsberechtigung. Auch die Abiturquoten steigen seit Jahren. Einen Ausschluss sehen wir deshalb nicht.

Wie sähe die akademische Ausbildung denn idealerweise aus?

Kohmäscher: Das wäre eine grundständige, hochschulische Ausbildung mit Erstqualifikation Bachelor und – ganz wichtig – gesicherter Praxisausbildung. Das bedeutet: Die Qualität der Praxisausbildung wird durch qualifizierte Anleiterinnen und Anleiter sichergestellt, und diese werden für ihre Arbeit, wie auch anderweitig üblich, vergütet. Mit der Akademisierung können sich die Therapieberufe auch weiterentwickeln, in dem „in“ den Therapieberufen von Logopädinnen und Logopäden, Physiotherapeutinnen und -therapeuten, Ergotherapeutinnen und -therapeuten geforscht wird und nicht „über“ die Therapieberufe durch Ärztinnen, Ärzte und andere Disziplinen. Über die hochschulische Verankerung wäre auch ein direkterer Wissenstransfer von neuen Erkenntnissen in die Praxis möglich, und ein enger Kontakt zur Praxis ermöglicht es, Bedarfe für zukünftige Forschungsthemen zu identifizieren.

Um Therapieberufe attraktiver zu machen, ist es mit der Akademisierung sicherlich nicht getan. Worauf kommt es sonst noch an?

Lippert: Das fängt schon mit der Bezeichnung von Logopädinnen und Logopäden, Ergo- und Physiotherapeutinnen und -therapeuten als Heilhilfsberufe beziehungsweise Heilmittelerbringer an – was dringend geändert werden müsste. Beides wird der eigentlichen Arbeit überhaupt nicht gerecht. Denn Therapeutinnen und Therapeuten haben ein enormes Fachwissen und arbeiten selbstständig sehr nah dran an den Patientinnen und Patienten. Letztendlich steht und fällt aber alles mit der Politik.

Inwiefern?

Kohmäscher: Letztendlich hat die Politik die Chance, die Akademisierung flächendeckend durchzusetzen. Doch damit tut sie sich offenbar schwer. Ein Beispiel: Ich bin schon sehr verwundert, dass trotz positiver Evaluation einer hochschulischen Ausbildung in einer inzwischen 10-jährigen Modellphase der Entschluss nicht gefasst werden kann, eine Vollakademisierung umzusetzen. Die Therapieberufe müssen sich weiterentwickeln, um attraktiver zu werden, den Fachkräftemangel in den Griff zu kriegen und monatelange Wartezeiten für die Patienten zu vermeiden. Dabei geht es auch um die Qualität der zukünftigen Patientenversorgung, und die sollte uns allen nicht egal sein!

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